Abenteuer Alpenüberquerung – wie aus einer kühnen Idee Wirklichkeit wurde
Einmal zu Fuß die Alpen überqueren – das klingt nach Abenteuer, nach Freiheit und auch nach einem gehörigen Stück Übermut. Wunsch und Zweifel liegen bei einer Alpenüberquerung nahe beieinander. Demut vor der Herausforderung gehört dazu, aber mit einer guten Grundfitness, sympathischen Wanderführern und der Kraft der Gruppe wurde aus einer kühnen Idee Wirklichkeit.
Grenzen überwinden – Alpenüberquerung
Eine Woche Zeit, Lust auf Bewegung und eine Portion Übermut waren die Zutaten für eine unvergessliche Alpenüberquerung von Garmisch nach Sterzing. Mit Bergführerin, Hotelübernachtung und Gepäcktransport als Rahmenbedingungen begann ein Abenteuer, das mehr versprach als nur die körperliche Herausforderung.
Die einzigartige Kombination aus Wandern in atemberaubender Bergkulisse und der persönlichen Herausforderung macht den Reiz der Alpenüberquerung aus. Vor allem das Gefühl, die Alpen tatsächlich zu ÜBERQUEREN, verleiht dem Ganzen einen besonderen Zauber. Die Herausforderung bleibt spannend, denn auch das Scheitern ist eine reale Möglichkeit.
Der Entschluss und die ersten Zweifel
„Liebe Maike! Wir haben so viele Anfragen für deinen kurzfristigen Wunsch-Termin für die Alpenüberquerung erhalten, dass wir uns für eine zweite Gruppe entschieden haben. Gerne bestätige ich dir deine Buchung. Liebe Grüße Michi.“
Mit dem Eintreffen der Buchungsbestätigung begannen die Gedanken zu kreisen: Wie wird es sein, eine Woche lang jeden Tag zu wandern?
Ich bin Kletterin, keine Wanderin. Manchmal dauert der Zustieg zum Felsen zwei Stunden und es werden dabei 800 Höhenmeter überwunden, aber eine Mehrtagestour? Das war Neuland. Dennoch hatte mich die Idee der Alpenüberquerung plötzlich gepackt – vielleicht auch, weil mein Kletterpartner lieber segeln wollte.
Packliste und Vorbereitung
Die Packliste beinhaltete neben üblichen Wanderutensilien auch Badesachen und einen Knirps. Voller Vertrauen folgte ich den Empfehlungen des Anbieters.
Während der Bahnanreise versuchte ich mit einem Podcast „Wie steige ich ins Training ein?“ mein offensichtliches Vorbereitungsdefizit zu überbrücken. „Wer sich mehr bewegt, muss auch mehr essen!“ Das war die Kernaussage – oder zumindest das Einzige, was ich hörte.
Gedankenkarussell: Schaffe ich das?
Der Anbieter klassifiziert die Alpenüberquerungs-Tour mit drei von vier Wanderstiefeln: Trittsicherheit, Wandern bis zu 6 Stunden, bis zu 900 Höhenmeter im Auf- und 1200 im Abstieg.
Einmal schaffe ich das sicher, aber sechs Tage hintereinander? Was ist, wenn nicht? Bilder von Bergsteigern wie Reinhold Messner tauchten in meinem Kopf auf.
„Das ist der Maßstab!“, flüsterte das Teufelchen auf meiner Schulter. Doch das Engelchen tröstete: „Vergleiche dich mit den Menschen um dich herum, die ebenfalls im norddeutschen Flachland leben.“
Ich fahre mit dem Rad zur Arbeit, nehme selten den Fahrstuhl und gehe klettern – das ist sicher mehr Bewegung als bei den meisten: Was könnte schlimmstenfalls passieren?
„Krone richten, in die Bahn setzen und nach Hause fahren. Nicht erstrebenswert, aber auch kein Beinbruch.“ Das beruhigte das Teufelchen, und das Engelchen strahlte.
Die Gruppe – Erste Begegnungen und Erwartungen
Beim ersten Treffen der Wandergruppe beim „Alpenüberquerer-Stammtisch“ im Vorübernachtungshotel entstand eine lebhafte Dynamik – ein buntes Potpourri an Dialekten und Persönlichkeiten. Trotz unterschiedlicher Heimatorte fanden wir schnell Gemeinsamkeiten. Jeder Neuankömmling wurde mit den gleichen Fragen empfangen: Woher kommst du? Hast du das schon mal gemacht? Warum machst du das?
Die Gruppe war bunt gemischt: Vater und Tochter, Einzelreisende, Schwestern, Paare und Freundinnen. Besonders auffällig: Mehr Frauen als Männer, und das Alter reichte von Mitte 20 bis Ende 70.
Der erste Wandertag – Aufbruch mit gemischten Gefühlen
Am Morgen trafen wir uns an der Eckbauerbahn in Garmisch. Wanderführerin Elisabeth, Wanderführer Robert und Michi, unser Ansprechpartner beim Veranstalter, begrüßten eine heitere, fast schon eingeschworenen Gruppe, die sinnbildlich mit den Hufen scharrte.
Nach Ausrüstungskontrolle – „Hat jeder vernünftige Bergstiefel und Wanderstöcke dabei?“ – und Gruppeneinteilung ging es los. Jede Gruppe wanderte für sich, das Wiedersehen war auf den Hütten zur Jause und in den ersten beiden Nächten im gleichen Hotel geplant.
Unsere Gruppe bestand ausschließlich aus Frauen, und Elisabeth übernahm die Führung. Es war eine ungewöhnlich junge Gruppe, und sechs der neun Teilnehmerinnen waren unter 50. „Das wird Fitness-technisch interessant“, dachten wir drei Ü50-Teilnehmerinnen sicherlich unausgesprochen.
Endlich geht es los
Die ersten Höhenmeter der Alpenüberquerung überwanden wir bequem sitzend in der Eckbauerbahn. Unten noch Zivilisation, oben begrüßte uns die beeindruckenden Bergkulisse, die sofort Abstand vom Alltag gab.
Nach wenigen Minuten machten wir auf einem kleinen Bergsattel die erste Pause, um uns besser kennenzulernen. Von „Ich wandere schon immer!“ bis „Ich habe gerade das Wandern für mich entdeckt!“ waren alle Wandererfahrungen dabei.
Mit jedem Schritt tasteten wir uns weiter in die Gruppe und die Wandererfahrung der anderen voran. Eines war schnell klar: ALLE hatten Respekt vor der Herausforderung.
In wechselnden Kleingruppen wanderten wir Richtung Elmau und schon bald kam das durch die G7-Gipfel bekannte Schloss in den Blick. Es wirkte unaufgeregt. Wer weiß, was das Schloss in der über 100jährigen Geschichte alles erlebt hat – wenn Gebäude doch sprechen könnten.
Auf sanften Pfaden, begleitet von angeregten Gesprächen, ging es weiter. „Oh, guckt mal, eine Orchidee!“ rief Nicole von hinten. Sie zeigte auf eine lila Blüte: „Ich glaube, das ist ein Knabenkraut.“
Das war der Beginn einer unerwarteten botanischen Lehr-Wander-Alpenüberquerung, bei der Nicoles Stimme uns bald regelmäßig daran erinnerte, nicht nur auf den Weg und die Berge zu achten, sondern auch die kleinen Blüten um uns herum zu bewundern.
Ankunft in Mittenwald – Erster gemeinsamer Abend
Am Etappenziel, dem Geigerdorf Mittenwald, ließ sich jede vor der Riesengeige ablichten. Ein erstes Gefühl von Erleichterung machte sich breit, als sich beide Gruppen am Bus zum Hotel in Axamer Lizum wiedertrafen.
Das moderne Hotel lag einsam am Hang, und wir fühlten uns dank des nepalesischen Servicepersonals wie echte Bergsteiger. Doch das leicht sterile Ambiente mit den großen Fensterfronten wirkte ein wenig wie aus einem Agatha-Christie-Roman entsprungen.
Vor dem Essen informierten Elisabeth und Robert über die erfolgte sowie die für den nächste Tag geplante Etappe. Ein Ritual, wie wir im Laufe der Woche feststellten.
Zur Sicherheit zählte ich beim Frühstück nach – alle waren da!
Der erste Aufstieg – Herausforderungen und Erkenntnisse
Der nächste Morgen begann im Nieselregen. Farbkleckse aus Regenjacken und -schirmen leuchteten auf dem stetig steiler werdenden Weg. „Ich dachte, ein Knirps ist ein kleiner Glücksbringer“, hörte ich von einer jüngeren Teilnehmerin. Das Schmunzeln verdrängte kurz die Anstrengung des Aufstiegs.
Elisabeths beruhigte uns mit den Worten: „Jede in ihrem Tempo!“ – ein Mantra, das uns durch die kommenden Tage begleiten würde.
Beharrlich setzte ich einen Fuß vor den anderen. Nach und nach verstummten auch die Gespräche um mich herum.
- Ist das nun die größte Steigung, die wir überwinden müssen?
- Wie lange wird der Aufstieg dauern?
Das kleine Teufelchen auf meiner Schulter meldete sich wieder: „Maike, meinst du wirklich, du schaffst das?“ Doch eine alte Weisheit kam mir in den Sinn: „Wie isst man einen Elefanten? Stück für Stück.“
Erst einmal die heutige Etappe schaffen, dann weitersehen. Das Teufelchen rutschte die nasse Regenjacke hinunter und blieb am Wegesrand liegen.
Zauber der Landschaft und Gruppendynamik
Nebelfelder und tiefhängende Wolken verliehen der Szenerie eine fast magische Stimmung und ein leichter Wind flüsterte: „Du erlebst hier etwas ganz Besonderes!“ Die Schritte in den schweren Bergstiefeln und das leichte Geplauder bildeten mit dem Pfeifen der Murmeltiere unsere eigene Alpenmusik.
Blasenpflaster und Wanderstöcke wurden geteilt, und bei den täglichen Hüttenbesuchen genossen wir österreichische Schmankerl, herzhaft oder süß, und lachten über Anekdoten. Wir waren Gäste dieser einzigartigen Bergwelt, und durch die Motivation unserer Wanderführer Elisabeth und Robert fühlten wir uns als Teil davon.
Das Gepäck wartete in jedem neuen Hotel, stets begleitet von einer kleinen Aufmerksamkeit. Michi achtete darauf, dass niemand aus Kraftmangel aufgab. Schokolade zauberte immer ein Lächeln auf unsere Gesichter.
Schmerz und Erleichterung – die körperlichen Herausforderungen
Zwar blieb der Muskelkater aus, aber mal brannten die Oberschenkel, dann zwickten die Schienbeine, und oft schmerzten beide zugleich. Dank der langen Abstiege machten sich zusätzlich die Knie bemerkbar. Meine Geheimwaffe Murmeltiersalbe wirkte leider nicht gegen die allabendliche Erschöpfung, aber es galt weiterhin:
Ich will die Alpen überqueren, in dieser Gruppe – nicht-weitergehen ist keine Option.
Erfrischung und Genuss – Ein Bad im Lichtsee
„Heute könnt ihr die Badesachen einpacken! Wir kommen am Lichtsee vorbei, und wer möchte, kann darin baden.“ Elisabeth steckte uns so mit ihrem Strahlen und Enthusiasmus an, dass niemand nach der Wassertemperatur fragte.
Zu sechst, ausschließlich Frauen, wechselten wir von Wander- in Badekleidung und stürzten uns ins kalte Vergnügen. Aufgeheizt vom Aufstieg waren die ersten Schritte gar nicht schlimm, dann Schnaufen und Schimpfen. Die Blöße, umzudrehen, gab ich mir nicht. Ein wohliges Kribbeln durchzog meinen Körper, und wie von Zauberhand fühlte sich das Wasser mit jeder Sekunde weniger eisig an. Sogar ein paar Schwimmzüge waren möglich.
Später erfahre ich, dass der auf etwa 2100 Metern liegende Lichtsee aus Regen- und Schmelzwasser gespeist wird und dass das klare Quellwasser selbst an heißen Sommertagen nie die 14-Grad-Marke überschreitet.
Die Macht der Gruppe – die Stärke der Gemeinschaft
Fast fühlte sich die geführte Wanderreise mit Gepäcktransport und Hotelübernachtungen wie betreutes Nichtstun an. Entscheidungen wurden uns großflächig abgenommen und vorwärts ging es Schritt für Schritt.
Entscheidend für den Erfolg einer Alpenüberquerung ist neben der körperlichen Fitness die Fähigkeit, sich in eine Gruppe zu integrieren. Mit jedem Tag wuchsen wir als Gruppe stärker zusammen. Ob auf dem höchsten Punkt nach einem fordernden Aufstieg oder am Etappenziel – immer war es das gemeinsame Erleben, das uns trug.
Es war wie beim kleinen Prinzen: „Freust du dich mit mir? Es ist so traurig, sich allein zu freuen.“
Willkommen in Südtirol
„Direkt hinter dem Grenzstein auf dem Sandjöchl befindet sich linkshaltend ein Unterstand, wo wir uns treffen werden“, kündigte Elisabeth an, während sie gegen den aufkommenden Sturm sprach. „Geht bitte in eurem eigenen Tempo weiter – niemand soll lange im Wind auf die anderen warten müssen!“
Oben erwartete uns jedoch Robert. Mit einer herzlichen Umarmung begrüßte er jede Alpenüberquererin und jeden Alpenüberqurere an der Grenze nach Italien: „Super, dass du dabei bist – ich bin stolz auf dich.“ Den heftig blasenden Wind schien er nicht zu bemerken. Erst da wurde mir wirklich bewusst: Das Schwierigste war geschafft. Und ja, ich durfte stolz auf meine Leistung sein.
Zieleinlauf
Bisher hatten wir Glück, aber die letzte Etappe versank im Regen und die geplante Strecke war unpassierbar. Obwohl wir statt Höhenmetern einfach nur Strecke überwanden, die Vorfreude auf den Abschluss in Sterzing trieb uns alle voran.
Beim triumphalen Zieleinlauf begleiteten mich zufriedene und ja auch stolze Gesichter: Es war geschafft – wir hatten die Alpen überquert! Die Freude war greifbar und das Abschlussfoto in unseren Finisher-T-Shirts machte diesen Moment unvergesslich.
Fazit: Die Magie der Gemeinschaft auf der Alpenüberquerung
Rückblickend war es die Gruppe, die den Unterschied macht. Wir motivierten uns gegenseitig, teilten die Freude, lenkten uns gegenseitig von den Strapazen ab und passten aufeinander auf. Sie hat neben der eigenen Fitness einen wesentlichen Anteil daran gehabt, dass wir sechs Tage lang jeden Morgen, eine neue Etappe angingen.
Gesunder Respekt vor den Herausforderungen ist wichtig, doch sich auch mal zu trauen und ein mögliches Scheitern gedanklich zuzulassen, führte zum Erfolg, der uns allen Tränen in die Augen trieb.
Natürlich rundeten die grandiose Berglandschaft und die Abgeschiedenheit vom Alltag das Gesamtpaket Alpenüberquerung ab.
„Ich habe das Wandern für mich entdeckt!“ – Es war sicherlich nicht meine letzte Mehrtagestour.
Und übrigens: Nach der Alpenüberquerung sinkt der Kalorienbedarf nicht automatisch wieder, das hatte der Podcast nicht erwähnt.
Typologie der Alpenüberquerenden
Die Etappen …
Von Garmisch nach Mittenwald
Von Axamer Lizum nach Mieders im Stubaital
Von Mieders nach Trins im Gschnitztal
Von Trins nach Obernberg
Von Obernberg nach Gossensass in Südtirol
Von Gossensass nach Sterzing
Der botanische Lehrwanderweg mit Nicole
Alle Fotos und Pflanzennamen wurden von Mitwanderin Nicole zur Verfügung gestellt.